Überstundenzuschläge für Teilzeitbeschäftigte – Neue Weichenstellungen durch das BAG

Ein Paradigmenwechsel mit weitreichenden Folgen

Die lange erwarteten Entscheidungsgründe des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu Überstundenzuschlägen für Teilzeitbeschäftigte liegen vor – und sie haben es in sich. Mit dem Urteil vom 5. Dezember 2024 rückt das BAG die systematische Gleichstellung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten in den Mittelpunkt der tarifrechtlichen Bewertung und zieht dabei enge Grenzen für differenzierende Zuschlagsregelungen.

Die Entscheidung greift tief in die betrieblichen Realitäten ein und konfrontiert Arbeitgeber ebenso wie Tarifvertragsparteien mit neuen Herausforderungen. Denn: In vielen Tarifwerken knüpfen die Regelungen zu Überstundenzuschlägen an fixe Schwellenwerte an, die sich nicht an der individuellen vertraglichen Arbeitszeit, sondern an einer abstrakten Wochenarbeitszeit orientieren. Das hat insbesondere für Teilzeitbeschäftigte Konsequenzen – und war Anlass für die unionsrechtlich aufgeladene Diskussion, die nun durch das BAG fortgeschrieben wird.

Der Streit um die richtige Vergleichsgrundlage

Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzung steht die Frage: Wie ist eine etwaige Ungleichbehandlung von Teilzeit- gegenüber Vollzeitbeschäftigten bei der Gewährung von Überstundenzuschlägen zu messen? Hierzu haben sich in der Literatur und Rechtsprechung zwei gegensätzliche Betrachtungsweisen herausgebildet.

Die sogenannte Gesamtvergleichsmethode orientiert sich an der Gesamtvergütung: Leisten Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte die gleiche absolute Stundenzahl, erhalten sie auch die gleiche Gesamtvergütung. Eine Ungleichbehandlung liege insoweit nicht vor.

Demgegenüber steht die Einzelvergleichsmethode. Sie betrachtet die einzelnen Entgeltbestandteile isoliert und fragt danach, ob für jede geleistete Stunde eine gleichwertige Vergütung erfolgt. Wird ein Überstundenzuschlag einem Vollzeitbeschäftigten ab der ersten zusätzlichen Stunde gewährt, einem Teilzeitbeschäftigten hingegen erst ab der Überschreitung eines festen Schwellenwertes, liegt eine Ungleichbehandlung vor.

In den vergangenen Jahren folgten deutsche Gerichte zunehmend der Einzelvergleichsmethode. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diese Sichtweise nun in mehreren Entscheidungen – insbesondere in den Rechtssachen Lufthansa City Line und KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation – bestätigt und konkretisiert.

Die Wertungen des EuGH: Mehr Belastung bei gleicher Arbeit

Der EuGH hat die starre Anwendung von Zuschlagsgrenzen, die sich an der typischen Vollzeitarbeitszeit orientieren, für europarechtswidrig erklärt. Die Argumentation: Ein Teilzeitbeschäftigter, der über seine vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus arbeitet, leistet zusätzliche Arbeit im gleichen Umfang wie ein Vollzeitbeschäftigter – gemessen an seiner individuell vereinbarten Arbeitszeit. Wird ihm für diese zusätzliche Arbeitszeit jedoch kein Zuschlag gewährt, liegt eine Schlechterstellung vor.

Diese Sichtweise trägt dem Umstand Rechnung, dass Teilzeit nicht etwa „Teilvergütung“ bedeutet. Die Belastung durch zusätzliche Arbeit ist relativ zur vertraglichen Arbeitszeit gleichgewichtig. Deshalb kann auch eine Zuschlagsgrenze, die scheinbar für alle gilt, Teilzeitkräfte in ihrer Arbeitswirklichkeit benachteiligen.

Zudem präzisierte der EuGH, dass eine solche Ungleichbehandlung nicht durch allgemeine Zielsetzungen der Tarifvertragsparteien gerechtfertigt werden kann. Notwendig seien vielmehr objektive, transparente und empirisch gestützte Kriterien, um eine differenzierende Zuschlagsregelung zu rechtfertigen. Die Tarifautonomie müsse sich unionsrechtlichen Vorgaben beugen, soweit Diskriminierungsverbote betroffen sind.

Die Position des BAG: Zwischen europäischem Primat und nationaler Tarifautonomie

In seinem Urteil vom 5. Dezember 2024 übernimmt das BAG die Vorgaben des EuGH nahezu eins zu eins. Es erklärt die in einem Firmentarifvertrag verankerte Überstundenzuschlagsregelung für teilnichtig, weil sie gegen § 4 Abs. 1 TzBfG verstößt. Teilzeitkräfte haben nach dieser Entscheidung Anspruch auf Überstundenzuschläge ab der ersten Überstunde – orientiert an ihrer individuellen Arbeitszeit.

Bemerkenswert ist, dass das BAG auch eine mittelbare Geschlechterdiskriminierung annimmt. Da ein überproportional hoher Anteil der Teilzeitbeschäftigten weiblich ist, wirken sich Benachteiligungen bei der Zuschlagsgewährung systematisch zu Lasten von Frauen aus. Diese Konstellation erfüllt nach Ansicht des Gerichts die Voraussetzungen von Art. 157 AEUV und § 3 Abs. 2 AGG.

Infolgedessen sprach das BAG nicht nur die begehrten Zuschläge zu, sondern auch eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Dabei lehnte es eine Berufung auf die Haftungsprivilegierung nach § 15 Abs. 3 AGG für Firmentarifverträge ab, da der Arbeitgeber in diesem Fall selbst Tarifvertragspartei war und die diskriminierende Regelung aktiv mitgestaltet hatte.

Kontroverse Diskussionen zur Reichweite und Umsetzung

Die Entscheidung löst nicht nur arbeitsrechtliche, sondern auch verfassungsrechtliche Diskussionen aus. Kritiker sehen in der „Anpassung nach oben“ – also der Ausdehnung der Leistung auf die bisher ausgeschlossene Gruppe – einen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie. Insbesondere vor dem Hintergrund des jüngsten Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Dezember 2024 zur Bedeutung der Koalitionsfreiheit könnte sich das BAG gezwungen sehen, seine Rechtsprechung zur Rechtsfolge bei Verstoß gegen § 4 TzBfG grundlegend zu überdenken.

Denn das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Tarifvertragsparteien primär die Kompetenz zur Korrektur gleichheitswidriger Tarifnormen besitzen. Eine richterliche „Anpassung nach oben“ komme allenfalls in Betracht, wenn keine andere sachgerechte Lösung denkbar sei. Dies dürfte jedoch nur in Ausnahmefällen der Fall sein.

Konsequenzen für die Praxis: Tarifverhandlungen und Compliance

Für Arbeitgeber und Tarifvertragsparteien ergibt sich akuter Handlungsbedarf. Bestehende tarifliche Regelungen, die Überstundenzuschläge erst ab einer abstrakten Schwelle gewähren, sollten auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des BAG und des EuGH überprüft werden. Tarifvertragsparteien sind gut beraten, zukünftige Regelungen differenzierter zu formulieren und ausdrücklich auf nachvollziehbare Zwecke – etwa Belastungsausgleich oder Arbeitszeitschutz – abzustellen.

Zudem gilt es, die statistische Betroffenheit einzelner Gruppen zu erheben, insbesondere um eine mittelbare Diskriminierung auszuschließen. Gerade im Fall von Verbandstarifverträgen stellt dies die Arbeitgeberseite vor erhebliche praktische Schwierigkeiten, da die einschlägigen Daten nicht ohne Weiteres verfügbar sind.

Auch im Bereich der Entgeltgleichheit – etwa im Rahmen von Entgelttransparenzverfahren nach dem EntgTranspG – dürfte das Urteil neue Dynamik entfalten.

Fazit: Richtungsweisendes Urteil mit offenem Ausgang

Das BAG hat mit seiner Entscheidung vom 5. Dezember 2024 ein klares Signal für die Gleichstellung von Teilzeitbeschäftigten gesetzt. Der Versuch, formale Gleichbehandlung durch eine einheitliche Zuschlagsgrenze zu erreichen, genügt nicht den Anforderungen des Antidiskriminierungsrechts.

Zugleich wirft das Urteil schwierige Abgrenzungsfragen auf: Wie weit darf richterliche Rechtsfortbildung gehen, ohne die Tarifautonomie zu untergraben? Wo endet die Gleichstellung und wo beginnt eine faktische Besserstellung einzelner Gruppen?

Die Beantwortung dieser Fragen steht noch aus. Sicher ist jedoch: Die Entscheidung des BAG wird die arbeitsrechtliche Praxis noch lange beschäftigen – und gehört daher auf die Agenda jeder tarifpolitisch aktiven Kanzlei, jedes Personalverantwortlichen und jeder betrieblichen Interessenvertretung.

Terminvereinbarung

WHATSAPP

Terminvereinbarungen mit der Kanzlei sind unproblematisch auch per WhatsApp möglich. Bitte beachten Sie jedoch, dass über WhatsApp ausschließlich die Terminvereinbarung erfolgt.

KONTAKTFORMULAR

Zur Vereinbarung eines Termins mit der Kanzlei Hobohm Natalello Giloth können Sie im Übrigen auch das Kontaktformular verwenden. So kommen Sie schnell und einfach zu Ihrem Termin in der Kanzlei

E-MAIL

Selbstverständlich können Sie Termine mit Ihrem Anwalt auch per E-Mail vereinbaren. Bei einer Kontaktaufnahme per E-Mail bietet es sich an, wenn Sie den Sachverhalt bereits grob skizzieren.